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Was effektives Win-Win Verhandeln mit Orangen zu tun hat? – Mehr als Sie vielleicht denken.

Orange am Baum

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Stellen Sie sich folgende Situation vor:

Zwei Schwestern, die noch bei Ihren Eltern wohnen, wollen für den Geburtstag ihrer Mutter am nächsten Tag jeweils einen Kuchen backen. Bevor sie am gestrigen Samstag einkaufen waren, haben sie nachgeschaut, welche Zutaten noch im Haus sind und welche sie einkaufen müssen. Am Sonntag treffen sich beide verwundert in der Küche, da sie bis eben gar nicht wussten, dass sie beide einen Kuchen backen wollen. 

Sie lachen kurz, bevor sie hochmotiviert beginnen, jeweils ihren eigenen Kuchen zu backen. Nach einiger Zeit greifen beide gleichzeitig zur letzten Orange im Haus und stellen in diesem Moment fest, dass sie beide diese eine Orange für ihren Kuchen brauchen. Es folgt ein Streit, da beide die Orange brauchen und extra nicht eingekauft hatten, da sie davon ausgingen, dass diese noch im Haus sei. Nun ist leider bereits Sonntag und kein Geschäft zum Kauf einer zweiten Orange hat mehr offen. Was sollten sie nun also tun? 

Beide Schwestern haben ihr jeweiliges Lieblingsrezept ausgewählt und wollen auch genau dieses backen. Sie starten zu verhandeln, wer die Orange erhalten soll und es werden die unterschiedlichsten Verhandlungsgegenstände, wie die Übernahme des Abwaschs und andere, in den Raum gestellt. Letztendlich will aber keine der Schwestern nachgeben und beide wollen unbedingt die Orange.

Wie sollten die beiden Schwestern die Orange nun gerecht aufteilen? Denken Sie gerne kurz selbst erst einmal nach, bevor Sie weiterlesen.

Nach einigem Hin und Her einigen sich beide darauf, dass es wohl die fairste Lösung sei, wenn sie die Orange einfach in zwei gleich große Stücke teilen und jede Schwester entsprechend eine Hälfte der Orange bekommen würde. Damit können sie ihre Kuchen zwar nicht nach dem Originalrezept backen, aber hoffen, dass die Kuchen trotzdem mit etwas Improvisation schmecken werden. 

Als eine der Schwestern die Orange packt und das Messer ansetzt, sagt die andere Schwester: „Drück doch nicht so fest, sonst läuft der ganze Saft ja schon vorher heraus!“. Die erste Schwester hält inne und fragt: „Warum? Ich dachte, du willst einen Kuchen backen? Was willst du denn mit dem Saft?“. So kommen beide ins Gespräch und es stellt sich heraus, dass die eine Schwester einen Saftkuchen backen will und dafür den Saft der Orange braucht, während die andere Schwester einen Gewürzkuchen backen möchte und dafür nur die Schale einer ganzen Orange braucht. 

Erleichtert lachen beide und teilen die Orange so auf, dass die eine Schwester das Fruchtfleisch und die andere Schwester die Schale bekommt. Beide können daher ihren Kuchen mit einer ganzen Orange nach dem Originalrezept backen. Am nächsten Tag ist ihre Mutter hocherfreut und stolz, nicht nur, dass ihre Töchter so gut backen können, sondern auch, wie gut sie ihre Konflikte lösen.

Diese amerikanische Geschichte, deren genauer Autor bis heute nicht gesichert bekannt ist, ist eines der bekanntesten Beispiele für das Win-Win Verhandeln gemäß der Harvard Prinzipien und wird häufig zur Veranschaulichung von kooperativem Verhandeln genutzt. Tatsächlich beschreibt das Beispiel sehr anschaulich die Funktionsweise von Integrativität, eines der wichtigsten Konzepte der Verhandlungsführung. Was genau Integrativität bedeutet, warum das Konzept für Verhandlungen so wichtig ist und wie Sie in Ihren Verhandlungen Integrativität erkennen und nutzen können, erfahren Sie im Folgenden.

Übersicht

Was bedeutet integratives oder Win-Win Verhandeln?

Integrativität ist ein sperriges Wort, bedeutet aber einfach gesagt, dass in Verhandlungen Lösungen existieren, welche potenziell beide Seiten besser stellen. Um das Konzept der Integrativität zu verstehen ist, ist es wichtig den sogenannten Verhandlungskuchen (negotiation pie), der das Gewinnpotenzial darstellt, das in einer Verhandlung verteilt wird, zu betrachten.

Entgegen der häufigen Auffassung ist der Verhandlungskuchen nicht fix, sondern variabel. Es ist also durch eine geschickte Verhandlungsführung häufig möglich, den ökonomischen Überschuss einer Vereinbarung zu erhöhen. Natürlich ist dabei eine Verteilung des Verhandlungskuchens deutlich leichter, wenn er entsprechend größer ausfällt. Im Englischen spricht man von der sogenannten „Fixed-Pie-Assumption“, welche auf die häufige Annahme verweist, dass alles, was die eine Seite gewinnt, die Gegenseite verliert und andersherum. Auch wenn dies in manchen Fällen der Realität entspricht, sehen wir am Beispiel der beiden Schwestern, dass dies nicht zwangsläufig der Fall sein muss. Es kann dabei grundsätzlich zwischen zwei unterschiedlichen Fällen unterschieden werden:

Distributive Verhandlungsgegenstände

Auf der einen Seite gibt es Verhandlungsgegenstände (Themen) in einer Verhandlung, die distributiv (Win-Lose) sind. Sie folgen also tatsächlich der Annahme, dass der Gewinn einer Seite den Verlust der anderen Seite darstellt.

Beispiel:

Ein typisches Beispiel für einen distributiven Verhandlungsgegenstand ist der Preis einer Leistung, welcher grundsätzlich immer spiegelbildlich als Gewinn oder Verlust einer Seite der jeweils anderen Seite zukommt. Zahlen Sie für ein Möbelstück 100 € weniger, haben Sie 100 € mehr Gewinn gemacht (oder anders gesagt 100 € gespart) und der Möbelhändler 100 € weniger Gewinn.

Integrative Verhandlungsgegenstände

Auf der anderen Seite folgen die integrativen (Win-Win) Verhandlungsgegenstände einer Verhandlung der Annahme, dass der Gewinn einer Seite nicht zwangsläufig einen ebenso hohen Verlust der Gegenseite nach sich zieht.

Beispiel:

Ein typisches Beispiel für einen integrativen Verhandlungsgegenstand ist, für das Beispiel des Möbelkaufs ein Skonto, den der Möbelhändler Ihnen gewährt. Wenn Sie auf Ihr Girokonto keinerlei Zinsen erhalten und das Geld bereitliegen haben, tut es Ihnen nicht weh, ob Sie direkt zahlen oder erst nach 30 Tagen. Gleichzeitig hat der Möbelhändler signifikante Kosten zur Beschaffung von Kapital und gleichzeitig ein Risiko, dass Sie nach 30 Tagen Ihre Rechnung doch nicht begleichen und er zu einem späteren Zeitpunkt die Forderung mit einem Abschlag an ein Inkassounternehmen abgibt. Der Möbelhändler spart sich die Kapitalkosten und mögliche Komplikationen bei einem drohenden Zahlungsausfall und gewährt Ihnen mittels eines Skontos einen zusätzlichen Rabatt auf das Produkt. Letztlich gewinnen beide Seiten und der Verhandlungskuchen (der ökonomisch erzeugte Nutzen der Vereinbarung) wurde insgesamt größer.

EXPERTENTIPP

Im Austausch mit Verhandlungspraktikern, vielleicht haben Sie dies soeben auch schon insgeheim gedacht, kommt häufig der Punkt zur Sprache, dass solche integrativen Verhandlungsgegenstände in den eigenen Verhandlungen scheinbar fast nie vorkommen. Es scheint, als sei Win-Win Verhandeln nur in der Theorie möglich. Tatsächlich können wir aus vielen Erfahrungen der letzten Jahre aus unterschiedlichsten Branchen und sehr unterschiedlichen Verhandlungssituationen sagen, dass es fast immer integrative Verhandlungsgegenstände gibt. Diese sind manchmal eindeutig und sehr wichtig, manchmal aber auch sehr schwierig zu entdecken und haben nur einen kleinen Effekt. Jedoch summieren sich auch in Verhandlungen die Vorteile kleinerer Aspekte und so können gerade bei wichtigen Verhandlungen über einige Prozent Verbesserung des Verhandlungsergebnisses bereits relevante Zusatzgewinne erzielt werden. Unterschätzen Sie deshalb das integrative Potenzial in Ihren Verhandlungen nicht!

Kooperation oder Konfrontration? Welche ist die richtige Verhandlungsstrategie?

Wie kann ich Integrativität erkennen und nutzen?

Die Identifikation von integrativem Potenzial in einer Verhandlung kann schwierig sein, weshalb es zumeist nicht ausreicht, sich der Existenz von Integrativität und der grundsätzlichen Möglichkeit des Win-Win Verhandelns bewusst zu sein. Sie müssen in den meisten Fällen in Verhandlungen aktiv nach Win-Win Lösungen suchen. Dabei hilft insbesondere, sich bewusst zu machen, dass Integrativität durch die unterschiedlichen Präferenzen zwischen den Verhandlungsparteien zustande kommt.

Beispiel:

Bezogen auf das Beispiel des Möbelkaufs ist ein Unterschied beim Kaufpreis für beide Parteien jeweils ein Euro. Beim Skonto hingegen wird der frühere Zahlungszeitpunkt und ein möglicher Zahlungsausfall von beiden Seiten unterschiedlich bewertet. Aus diesen unterschiedlichen Bewertungen entsteht das integrative Potenzial in dieser Situation. 

Es gibt verschiedene Wege, integrative Verhandlungsgegenstände besser zu identifizieren. Einige der wichtigsten Methoden haben wir nachfolgend aufgeführt.

Über Interessen anstatt Positionen verhandeln

Ein klassischer Ansatz der Harvard-Prinzipien besagt, dass statt über Positionen vor allem über Interessen verhandelt werden sollte. Das bedeutet, dass Sie sich weniger damit auseinandersetzen sollten, was Sie und die Gegenseite fordern, sondern warum Sie es fordern.

Beispiel:

Denken wir an eine Situation, in der ein Produktionsunternehmen mit einem Rohstofflieferanten verhandelt. Der Lieferant kann möglicherweise nur eine gewisse Zuverlässigkeit in der Pünktlichkeit seiner Lieferungen anbieten, was zum Streitpunkt zwischen den beiden Parteien führt. Beide Verhandlungsparteien beginnen nun um die akzeptable Abweichung der Pünktlichkeit zu verhandeln und festzulegen, ab wann es vertragliche Strafen für den Lieferanten gibt. Wird das Problem aber mit etwas Abstand betrachtet, wird möglicherweise deutlich, dass der Lieferant eine gewisse Liefertreue kurzfristig nicht bieten kann, weil die benötigte Logistik häufig an ihre Kapazitätsgrenze gelangt. Eine frühere Ankündigung des Bedarfs seitens des Produktionsunternehmens könnte in Engpässen mehr Zeit einräumen, um alternative Logistiklösungen zu finden und eine bessere Pünktlichkeit zu gewährleisten. Statt über Abweichungsquoten und Strafen zu verhandeln, sollten beide Parteien somit eher über zugrundeliegende Probleme und mögliche Lösungsansätze beraten.

Offene und transparente Kommunikation

Ein weiterer Punkt, der im Beispiel klar wird, ist, dass eine offene und transparente Kommunikation in vielen Fällen hilfreich sein kann, um ineffiziente Ergebnisse, basierend auf faulen Kompromissen, zu vermeiden. Wenn sich die beiden Schwestern aus Angst, dass die andere Schwester sie vielleicht übertrumpft, nicht erzählt hätten, welchen Kuchen sie der Mutter backen wollen, hätten sie die integrative (Win-Win) Lösung niemals gefunden. Natürlich ist eine kooperative und zu offene Haltung, wenn diese nur einseitig gegeben ist, unvorteilhaft. Allerdings führt eine zu starre Konzentration auf die möglicherweise bösen Absichten der Gegenseite zu einem verstärkten Gefühl eines fixen Verhandlungskuchens, welcher nicht der Realität entspricht. 

Versteifen Sie sich deshalb weder zu stark auf eine Kooperation um jeden Preis noch auf eine Konfrontation. Bringen Sie vor allem die nötige Offenheit mit, auch einmal unkonventionell zu denken und ungewöhnlichen Vorschlägen nachzugehen. Dies kann auch bedeuten, dass zunächst viele verschiedene Ideen gesammelt werden, um dann erst in einem zweiten Schritt die Ideen zu bewerten und zu prüfen, ob diese tatsächlich so abwegig sind, wie sie auf den ersten Blick vielleicht erscheinen.

Eine offene und transparente Kommunikation kann in vielen Fällen hilfreich sein, um Win-Win Ergebnisse zu verhandeln und ineffiziente Ergebnisse zu vermeiden.

Perspective Taking Ability

Die zentrale Fähigkeit aktiv zuzuhören und die Motive der Gegenseite zu hinterfragen kommt in Verhandlungen häufig zu kurz. Gerade diese Fähigkeit, die sogenannte Perspective Taking Ability (PTA), ist ein wichtiges Instrument zur Identifikation von integrativem Potenzial und der Suche nach anderen Wegen und Motiven.

Es ist dabei nicht immer nötig, dass das Thema von Interesse tatsächlich direkt eine kompatible und somit reale integrative (Win-Win) Lösung produziert, bei welcher sich beide Seiten durch eine bestimmte Einigung besserstellen. Es reicht häufig aus, den Präferenzunterschied aufzudecken, also eine unterschiedliche Bewertung eines Themas zu haben, wofür sich die Verhandlungsparteien im Anschluss in einem anderen distributiven (Win-Lose) Verhandlungsgegenstand kompensieren.

Beispiel:

Wenn zwei Unternehmen unterschiedliche Finanzierungskosten haben, könnten sie ein späteres Zahlungsziel vereinbaren. Der Rohstofflieferant gewährt ein längeres Zahlungsziel als üblich, wofür im Gegenzug ein höherer Preis seitens des Produktionsunternehmens akzeptiert werden kann. Die Liquiditätslinien der beiden Unternehmen werden also optimiert und der entstandene Gewinn unter beiden Verhandlungsparteien über den Preis aufgeteilt.

Erfahrung

Abschließend sollte die Erfahrung von Verhandelnden nicht unterschätzt werden. In vielen Situationen erkennen Sie Muster oder ähnliche Motive wieder, die in der Vergangenheit bereits integrative Lösungen gebracht haben. Wenn Sie aktiv nach integrativen (Win-Win) Verhandlungsgegenständen suchen, sich mit Kollegen und Experten austauschen und im Laufe der Zeit einen gewissen Erfahrungsschatz ansammeln, werden Sie immer häufiger in der Lage sein, aus dem Stegreif integrative Verhandlungsthemen zu erkennen und diese zu Ihrem Vorteil nutzen.

Beispiel:

Häufig werden in der Praxis bereits integrative Lösungen forciert, ohne diese explizit als integrativ zu definieren. Weitere beispielhafte Fälle für die Nutzung von integrativem Potenzial und Win-Win Verhandeln im Businesskontext sind:

  • die Abwägung zwischen Menge und Preis, was zu einer Steigerung der Effizienz entlang der Lieferkette führt
  • die Abwägung zwischen Qualität und Preis, welche sich in geringeren Ausfällen und folgenden Ersatzansprüchen der Kunden äußert
  • eine vertragliche Aufteilung des Risikos von Schwankungen der Rohstoffpreise, welche das unternehmerische Risiko des Lieferanten reduziert und entsprechend einen geringeren Preis seinerseits ermöglicht und spätere Nachverhandlungen häufig verhindern kann

Auch wenn das Konzept der Integrativität im Grunde genommen simpel ist und als absolutes Verhandlungs-Basic gilt, so erleben wir es in unserer täglichen Arbeit doch sehr häufig, dass dieses Potenzial ungenutzt bleibt und somit Verhandlungsergebnisse beidseitig nicht optimal ausfallen. Die systematische Suche und das konsequente Wahrnehmen solcher Chancen kann die eigenen Verhandlungsleistungen jedoch deutlich steigern. 

Wenn Sie weitere Techniken und einfache Tools aus dem Aura Konzept zum Identifizieren von integrativem Potenzial sowie viele weitere Beispiele, welche Sie in Ihrem Praxisalltag verwenden können, kennenlernen möchten, buchen Sie sich gerne ein Coaching für Ihre spezifische Verhandlungssituation oder besuchen Sie eines unserer Grundlagen-Trainings und bringen Sie Ihre Verhandlungsfähigkeiten auf ein neues Level.

Fisher, R., & Ury, W. (1981). Getting to yes: Negotiating agreement without giving in. Houghton Mifflin. 

Froman Jr., L. A., & Cohen, M. D. (1970). Compromise and logroll: Comparing the efficiency of two bargaining processes. Behavioral Science, 15(2), 180-183. https://doi.org/10.1002/bs.3830150209 

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Lax, D. A., & Sebenius, J. K. (1986). Interests: The measure of negotiation. Negotiation Journal, 2(1), 73-92. https://doi.org/10.1111/j.1571-9979.1986.tb00339.x  

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